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Kein Land in Sicht: Die dramatische Lage der Kreuzfahrt-Crew-Mitglieder

Drei Selbstmorde innerhalb von zehn Tagen. Das ist das traurige Resümee nach über zwei Monaten auf See. Diese Krise scheint für Crew-Mitglieder von Kreuzfahrtschiffen auch nach zwei Monaten noch kein Ende zu nehmen. Mutmaßlich Hunderttausende Besatzungsmitglieder sind weltweit gestrandet. Genaue Zahlen können derzeit nur schwer beziffert werden. Doch allein in US-Gewässern ist die Rede von 71.900 Besatzungsmitgliedern auf 104 Schiffen. Hier, aber auch vor Häfen wie Manila sieht man die vielen Kreuzfahrtschiffe verschiedener Reedereien seit mehreren Wochen gemeinsam auf See auf Reede (sie ankern). Sie warten. Warten auf eine Entscheidung der jeweiligen Gesundheitsbehörden, ob die Menschen endlich von Bord nach Hause dürfen. Es sieht aus als hielten diese Kolosse Meetings ab. Hinter diesem seltenen und zugleich faszinierenden Anblick verbergen sich jedoch zumeist traurige und tragische Geschichten.

Über fünf Jahre lang habe ich selbst an Bord von Kreuzfahrtschiffen gearbeitet. Jetzt habe ich mit vielen ehemaligen Kollegen, Freunden, gesprochen, die noch an Bord sind. Ihnen und den Schiffscrews weltweit möchte ich eine Stimme geben.

Die Crew in Not

Crew-Mitglieder – das sind all jene unverzichtbaren Menschen aus aller Welt, die eine gute Kreuzfahrt erst ausmachen und die sie für ihre Gäste zu einem Erlebnis werden lassen. Das sind all die Kellner, Kabinenstewards, Reiseleiter, Köche, Rezeptionisten, Ingenieure und Offiziere, die traditionell am Ende einer jeden Reise von den Gästen bejubelt werden. Das ist die philippinische Barkellnerin, die immer genau weiß, was Sie nach dem Abendessen am liebsten an der Bar trinken. Das ist der indonesische Kabinensteward, der Sie Tag für Tag mit Tieren aus Handtüchern in der Kabine überrascht.

Das sind die Menschen, die es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft haben, die entweder noch (in Isolation in Einzelkabinen) an Bord oder in Quarantäne Stationen feststecken oder wahlweise aufgrund der Reisebeschränkungen in Hotels fern von ihren Familien.

Als sich die Corona Krise auch für die Kreuzfahrtindustrie verschärfte und alle Kreuzfahrtreisen nacheinander abgesagt wurden, wurden zunächst die Gäste und, nach Möglichkeit, auch schon Besatzungsmitglieder nach Hause geschaffen. Das Ziel: Die Schiffe sollen nur noch mit der essenziellen Schiffscrew bemannt sein bis die Reisen wieder starten.

Zurück nach Hause. Mission Impossible (?)

Inzwischen ist die Rückführung der Hunderttausenden Crew-Mitglieder zu einer Mammut-Mission für die Reedereien geworden.

Staaten, die sich weigern Schiffe anlegen zu lassen. Staaten, die sich weigern, Crew an Land zu lassen. Staaten, die ihre Bürger nicht einreisen und damit zurückkehren lassen. Staaten, die ihre Häfen und Flughäfen schließen.

Ganze Krisen-Teams arbeiten aufwendige „Global Repatriation Plans“, Rückführungspläne, aus und sind damit tagtäglich in ständigem Kontakt mit Regierungen und Gesundheitsbehörden aller Herren Länder. Wo können und dürfen wir Charterflüge organisieren? Wo müssen wir die Crew mit dem Kreuzfahrtschiff nach Hause bringen und wie organisieren wir diese Routen sinnvoll? Meine ehemalige Reederei, Royal Caribbean International, hat ihren Repatriation Plan zur Rückführung Tausender Crew-Mitglieder, 60 unterschiedlicher Nationalitäten, mit elf ihrer Kreuzfahrtschiffe veröffentlicht. So werden sie mit dem Schiff zu ihrem Heimathafen gebracht oder zu einem Hafen, von dem aus sie einen Flug nach Hause nehmen können.

Ein Beispiel: Zwei (oder mehr) Karibik-Kreuzfahrtschiffe „treffen“ sich auf hoher See und tauschen Crew aus. Da sie das nicht im Hafen tun dürfen, tun sie es auf hoher See mit den schiffseigenen Tenderbooten. Eines nimmt die Besatzungsmitglieder auf, die ihre Heimat in der Karibik und in Südamerika haben und das andere, diejenigen, die nach Asien müssen. So brechen sie dann auf die große Reise auf. Eine sehr lange Reise.

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Gestrandet: 20 Kreuzfahrtschiffe vor Manila. Über 20.000 philippinische Besatzungsmitglieder, die darauf warten in ihre Heimat zu dürfen. (Foto von Daniel Solonia)

Wenn aus Spaß bitterer Ernst wird

Unvorhersehbare Vorkommnisse, Krisen und „Unannehmlichkeiten“ sind keine Seltenheit für Kreuzfahrt-Crews. Hurricanes, Stürme, Norovirus, Hafenstreiks, entfallende Häfen, Gewaltdelikte und so weiter und so fort. Mit der Zeit härtet man ab. Flexibilität ist keine Floskel mehr, schocken kann einen nicht mehr viel und man lernt mit jeder noch so absurden Situation umzugehen.

Auch Covid-19 war zu Beginn einfach nur eine dieser Situationen, an die es sich anzupassen galt. Die Quarantäne Maßnahmen, für die die Besatzungsmitglieder Gästekabinen mit Meerblick beziehen durften, wurden dankbar angenommen. Zu Beginn ist die Stimmung noch heiter, wenn man das Schiff, ohne Gäste, für sich allein hat und eine Balkonkabine beziehen kann. Wenn dann nach 14 Tagen Quarantäne klar ist, dass das Schiff virenfrei ist, macht sich Erleichterung breit. Sie dürfen jetzt den ganzen Spielplatz namens Kreuzfahrtschiff mit Auto Scooter und Co nutzen (mit dem nötigen Sicherheitsabstand natürlich), was sonst nur den Gästen vorbehalten ist. Der Zusammenhalt, der an Bord ohnehin unheimlich ausgeprägt ist, wird noch stärker. Sie versuchen mit Videos und Performances ihren Spirit aufrechtzuerhalten (#wewillbeback & Fight Song). Doch irgendwann kippt auch hier die Stimmung. Und das ist noch ein Positivbeispiel.

Auf einigen Schiffen, auf denen das Virus sogar nachgewiesen wurde, müssen die Besatzungsmitglieder sich immer noch kleine Crewkabinen teilen, die je nach Schiff 6-10 qm winzig sind. Außerdem sind sie von der Außenwelt abgeschottet. Die Ängste und Sorgen wachsen in der Isolation – auch bei noch so erfahrenen Crew-Mitgliedern.

Eine nie da gewesene Zerreißprobe

Aus dieser Pandemie sollte etwas Größeres werden. Sie sollte alles übersteigen, was bis dahin vorstellbar war. Eine nie da gewesene Zerreißprobe, die viele Opfer fordert.

Die psychische Belastung, der die Crew-Mitglieder jetzt ausgesetzt sind, ist enorm hoch und für viele kaum zu ertragen. So sah Kristoff (26), Elektriker an Bord der Jewel of the Seas für sich keinen anderen Ausweg als nach Hause zu schwimmen. Diese Verzweiflungstat bezahlte er mit dem Tod. Die Jewel of the Seas lag zu der Zeit noch in griechischen Gewässern auf Reede. Ein Mix aus Verzweiflung, Depression und Alkohol hat ihn, mitten in der Nacht vom 30. April 2020, dazu getrieben von Deck 12 über Bord zu springen, um seinem Schicksal zu entgehen. Alle Suchaktionen waren vergeblich. Weder die Schiffssicherheit noch die griechische Küstenwache konnte ihn finden.

Ich habe mit einem ehemaligen Kollegen gesprochen, der derzeit an Bord der Jewel of the Seas ist. Er erzählte, dass die Reederei sich sehr darum bemüht alle nach Hause zu bekommen. Für ihn (er kommt von den Philippinen) und seine Kollegen waren schon öfter Charterflüge geplant. Nicht selten mussten diese dann wieder abgesagt werden, weil die Heimatländer zum Beispiel plötzlich ihre Flughäfen dichtmachten oder die Länder, die als Abflugort dienen sollten, es ihnen dann doch nicht gestatten von Bord zu gehen. Auch nicht um den Heimflug anzutreten.

„Ich weiß, dass die Company alles tut, um uns sicher nach Hause zu unseren Familien zu bekommen. Für die Zwischenzeit bekommen wir gratis Internet, um mit unseren Lieben daheim in Kontakt bleiben zu können. Außerdem arbeiten wir an Systemupdates, für die sonst keine Zeit gewesen wäre. Ich vermisse meine Familie sehr und ich vertraue darauf, dass alles gut wird und wir uns bald wieder in die Arme schließen können.“

Wenn der Arbeitsplatz zum Gefängnis wird

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass allein schon sechs Tage auf See, bei der Transatlantiküberquerung zum Beispiel, für Besatzungsmitglieder enorm herausfordernd sein können. Die Enge, das Miteinander und eine gewisse Monotonie werden zu einer Belastungsprobe, wenn man nicht kurz austreten und Fuß auf festen Boden setzen kann. Ich rede hier von sechs Tagen. Aktuell jedoch gibt es Crew-Mitglieder, die schon seit über 60 Tagen nicht mehr an Land waren. Untersagt wird es ihnen von den jeweiligen Landesbehörden. Selbst Schiffe, die nachweislich seit über 14 Tagen virenfrei und somit „clean“ sind, dürfen nur anlegen, um Proviant zu laden. So wird der Arbeitsplatz Kreuzfahrtschiff, der üblicherweise wie sonst kein anderer Arbeitsplatz für Freiheit steht, plötzlich zum Gefängnis.

Und die Crew-Mitglieder, die auf einem virenfreien Kreuzfahrtschiff sind, haben noch Glück im Unglück, denn sie können sich wenigstens an Bord noch frei bewegen. Anders sieht es -je nach Reederei- auf den Schiffen aus, auf denen Covid-19 bei einem oder mehreren Besatzungsmitgliedern nachgewiesen wurde. Hier werden die Menschen isoliert. Es gibt tatsächlich Reedereien, die ihren Crews kein gratis Internet zur Verfügung stellen. Komplette Isolation auf engstem Raum: allein mit sich und seinen Gedanken, kein Kontakt zur Außenwelt, kein Kontakt zu seinen Lieben, um die man sich Sorgen macht.

Noch ein Todesfall

Hinzu kommt, dass es nicht allen Reedereien gelingt einen steten Kommunikationsfluss zu ihren Crews an Bord zu halten. Anonym berichtete ein Crew-Mitglied der Carnival Breeze dem Crew Center, dass sie komplett im Dunkeln gelassen werden und nicht mitbekommen was los ist und, ob es überhaupt Pläne gibt sie nach Hause zu bringen. Alles was sie weiß, erfahre sie aus den Medien.

Am 9. Mai 2020 wurde ein 29-jähriges Crew-Mitglied aus Ungarn, der an Bord der Carnival Breeze im Ausflugsbüro tätig war, tot in seiner Kabine aufgefunden. Er hatte die Kabine drei Tage lang nicht verlassen und am Ende keinen Ausweg mehr gesehen als sich das Leben zu nehmen. Das Schiff war en route ihn und andere Kollegen zurück nach Europa, nach Hause zu bringen.

Oscar Oscar Oscar – schon wieder

Oscar Oscar Oscar ist der Code für Man Overboard. Schon wieder ertönen diese drei Worte innerhalb kürzester Zeit durch die Lautsprecheranlagen eines Kreuzfahrtschiffes. Diesmal an Bord der Regal Princess, die im Hafen von Rotterdam liegt. Eine Mitarbeiterin aus der Ukraine hat am 10. Mai 2020 den Freitod gewählt und sich ins Meer gestürzt. Jede Hilfe kam zu spät, sie konnte nur noch leblos geborgen werden. Es hatte einen Charterflug nach Hause für sie gegeben, der musste jedoch kurzfristig abgesagt werden. Das muss der Anlass für sie gewesen sein ihr Leben zu beenden.

Die Nerven liegen blank

„Wir wollen alle nur noch nach Hause“, erzählt mir ein ehemaliger Kollege aus Indien. Er steckt an Bord vor Miami fest. Es gebe noch Projekte für ihn und seine Kollegen, aber kaum jemand habe dafür aktuell einen Kopf.

Die Nerven liegen blank. An Bord der Mein Schiff 3, die vor Cuxhaven in Quarantäne liegt, kam es zu einem Polizeieinsatz, weil einige Crew-Mitglieder randalierten. Laut nord24 beklagten sich Crew-Mitglieder über die psychische Belastung durch die „knast-ähnlichen“ Zustände an Bord, darüber, dass Lohnzahlungen ausgesetzt wurden und darüber, dass es in den fensterlosen Innenkabinen, ohne Chance darauf das Schiff zu verlassen, kaum noch auszuhalten ist.

Ein ehemaliger Kollege von mir hatte es Mitte März noch nach Manila geschafft. Allerdings ist er dort, fern von seiner Familie, die zwei Fahrstunden weit weg wohnt, gestrandet – aufgrund der inländischen Reisebeschränkungen. So harrt er heute noch allein in Isolation aus und hofft, dass er bald endlich zu seiner Familie darf.

Eine Ex-Kollegin ist derzeit auf einem Schiff, das seit zwei Monaten um England herumschippert und Crew-Mitglieder nach Hause bringt. Jetzt geht es nach Gibraltar, dann nach Spanien und in einem Monat wird vielleicht auch sie zuhause in Belgrad angekommen sein.

„Wir haben noch Glück. Unser Schiff ist clean, wir können uns frei an Bord bewegen, wenn wir Abstand halten und Masken tragen, aber ich hatte keinen festen Boden mehr unter den Füßen seit dem 23. Februar und das setzt mir sehr zu.“

Diejenigen, die es rechtzeitig und gesund nach Hause zu ihren Familien geschafft haben, bangen um ihre Zukunft. Die meisten von ihnen lieben das Schiffsleben und können sich kaum etwas anderes vorstellen.

Kreuzfahrtschiff, Crew, Gitalian World
Crew-Wechsel finden auf hoher See mittels Tenderbooten statt

Gibt es noch eine Zukunft?

Einige Reedereien planen vereinzelt Schiffe ab Juni / Juli / August wieder mit Kreuzfahrtreisen in See stechen zu lassen. Ob sich das realisieren lässt, ist eine andere Frage. Ebenso fraglich ist, ob das Konzept „Massentourismus“ danach noch umsetzbar ist und, ob es überhaupt noch zeitgemäß ist. Ob die Reedereien das Virus überleben werden ist noch unklar.

Eine ehemalige Kollegin aus Kanada, mit der ich an Bord der Voyager of the Seas gearbeitet habe, wagt eine kleine Prognose:

„Ich hoffe und ich glaube fest daran, dass die Kreuzfahrtindustrie eine Zukunft hat. Wahrscheinlich werden es nicht alle Reedereien schaffen. Aber ich habe Vertrauen und bin mir sicher, dass wir es mit Royal Caribbean durch diese harte Zeit schaffen werden und stärker als je zuvor aus dieser Krise kommen werden.“

Diesen Beitrag habe ich in Gedenken an die Crew-Mitglieder da draußen verfasst, die ihr Leben beendet/verloren haben und die, die sich jetzt gerade irgendwo auf See verloren fühlen. Über fünf Jahre lang habe ich selbst an Bord gearbeitet und kann mir nur ansatzweise vorstellen, was sie jetzt gerade durchmachen. #staystrong

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Hintergrund Infos

Über eine Millionen Menschen arbeiten weltweit in der Kreuzfahrtindustrie. An ihr hängen ihre Schicksale, ihre Existenzen und die ihrer Familien.

20 Crew-Mitglieder sind bisher am Coronavirus gestorben. Die Anzahl der infizierten Besatzungsmitglieder liegt laut Miami Herald aktuell (13.5.) bei 1.114.

Es gibt auch Crew-Mitglieder, die während der Pandemie lieber an Bord sind, denn auf einem virenfreien Kreuzfahrtschiff ist es in der aktuellen Lage sicherer als in manch einem Heimatland. Die Hygienestandards und -maßnahmen an Bord sind hoch – das waren sie schon immer.

Besonders dramatisch ist die Lage für die Schiffscrews der Schiffe, die in US-Gewässern feststecken. Über den Zwist zwischen der CDC (Centre for Diesease Control and Prevention der US-Gesundheitsbehörden) und den Reedereien erfährst du hier mehr.

Viele der Reedereien bieten eine professionelle telefonische Seelsorge für ihre Crews, die diese in Anspruch nehmen sollen/können/dürfen. Die Kollegen derjenigen, die in dieser Situation Selbstmord begangen haben, bestätigen, dass sie keine Wesensveränderungen wahrgenommen hatten. Der Schock über den Suizid ist dann groß und Vorwürfe an sich selbst bleiben nicht aus. Ein Teufelskreis.

Kreisen deine Gedanken darum, dir das Leben zu nehmen? Sprich mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.

Informationsquellen: mehrere Crew-Mitglieder verschiedener Reedereien, die verständlicherweise anonym bleiben wollen, cruisetricks, Crew Center und Nachrichtenportale

Wenn dich das Schicksal der Menschen an Bord so sehr berührt wie mich und du dich darüber austauschen möchtest, meld dich gern bei mir. Ich freue mich auf deine Nachricht. Baci & Abbracci, Deine Gitaliana Michela