Schweinswale-Ostsee-Aussterben
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Ostsee: Der schleichende Tod der Schweinswale

Wie lange wird es diese Spezies in der Ostsee noch geben? Die Meeresschutzorganisation Sea Shepherd Deutschland führt aktuell eine Kampagne zu ihrem Schutz durch. Klar ist: Der Mensch ist nicht nur Bewunderer der Schweinswale, sondern vielleicht auch die größte Gefahr für ihr Überleben.

Fehmarn. Endlich mal wieder ein sonniger Tag in Norddeutschland. Einer dieser Tage, an denen kaum eine Wolke am Himmel zu sehen ist. Die Sonne zaubert Funken auf die tiefblaue Wasseroberfläche. Da! Plötzlich taucht ein Schweinswal auf. Und noch einer! „Ohhs“ und „Ahhs“ gehen durch die Gruppe begeisterter Touristen an Bord des „Tümmlers“. Wahnsinn! Wer hätte das gedacht? Wale in der Ostsee. Die Gäste werden auf einmal ganz still. Als wollten sie so verhindern, dass die Schweinswale auf Nimmerwiedersehen abtauchen.

Genau das könnte schon bald geschehen. Denn die Kleinen Tümmler, wie die Schweinswale auch genannt werden, sind vom Aussterben bedroht. Ihnen droht dasselbe Schicksal wie den Großen Tümmlern, der meistverbreiteten Delfinart, die ebenfalls in der Nord- und Ostsee heimisch war. Die Artgenossen von „Flipper“, dem einstigen Fernsehstar, sind hierzulande bereits vor fünfzig Jahren ausgestorben.

Schwankende Populationsschätzungen

Heute steht eine bestimmte Schweinswalpopulation, die „Baltic Proper“, auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Laut Bundesamt für Naturschutz (BfN) leben in der zentralen Ostsee nur noch 497 Individuen. Diese Zahl geht auf die letzte offizielle Zählung (2011-2013) im Rahmen des internationalen SAMBAH Projekts (Static Acoustic Monitoring of the Baltic Sea Harbour Porpoise) zurück. Umwelt- und Tierschutzorganisationen vermuten jedoch, dass sich die Anzahl inzwischen weiter verringert hat. Informationsmaterialien des WWF zufolge, leben nur noch 100 bis 400 Tiere in der zentralen Ostsee.

Die Populationsschätzung für die zentrale Ostsee schwankt sehr stark. Dies liege vor allem daran, dass es sehr schwierig sei, diese Population zu erfassen.

„Sie ist mittlerweile so klein, dass sich traditionelle Zählmethoden, wie zum Beispiel aus dem Flugzeug, nicht mehr lohnen, weil das Gebiet riesig ist und die Wahrscheinlichkeit, einen Schweinswal zu sehen sehr gering.“


Dominik A. Nachtsheim von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW).

Tragödie am Strand

Zingst. Es ist ein schöner Sommertag im Juli 2019. Die Sonne strahlt, das Meer funkelt und die Touristen genießen den naturbelassenen Strand zwischen Meer und Wald. Zwei Urlauber spazieren die Küste entlang, als sie eine erschütternde Entdeckung machen: Ein kleiner, weißer Schweinswal liegt leblos vor ihren Füßen.

So wie diesen beiden Urlaubern ergeht es inzwischen immer wieder Menschen, wenn sie sich an Deutschlands Küsten aufhalten. Laut BfN lag die Anzahl der gestrandeten Schweinswale an der deutschen Ostseeküste zwischen 2015 und 2019 bei insgesamt 973. Die Zahlen von 2020 liegen noch nicht vor.

Die größte Gefahr ist der Mensch

Paradoxerweise ist der Mensch der wohl größte Bewunderer und zugleich der größte Risikofaktor für die Schweinswale. Denn natürliche Fressfeinde drohen ihnen derzeit nicht. Es sind vor allem anthropogene Faktoren, die dem Schweinswal das Leben schwer machen. Dazu gehört der Lärm, der unter anderem von Schiffen ausgeht. Er verletzt die Echoortung der Schweinswale: Sie werden taub und können so nicht überleben. Auch die Verschmutzung der Gewässer durch Düngemittel und Müll führt unweigerlich zu ihrem Tod.

„Das Plastik, das die Beutefische des Schweinswals fälschlicherweise für Plankton halten und verschlucken, lagert sich über einen gewissen Zeitraum ab. Da es nicht abgebaut werden kann, muss der Schweinswal am Ende mit vollem Magen verhungern.“

Website Stiftung Deutsches Meeresmuseum

Zu den größten Bedrohungen jedoch zählt die (Stellnetz-)Fischerei. Laut BfN ist in 50 Prozent der Fälle Beifang als Todesursache auszumachen: „Eine der wesentlichen Gefährdungen von Schweinswalen durch menschliche Aktivitäten geht von der Fischerei mit Kiemen- und Verwickelnetzen aus, in denen sich die Tiere verfangen und ertrinken können.“ In der kommerziellen Stellnetzfischerei treten diese auf, wo sich die Fang- und Verbreitungsgebiete der Schweinswale überlagern, jedoch werde nur ein geringer Teil dieser Beifänge gemeldet. Bei der Untersuchung gestrandeter Totfunde können Netzmarken darauf hindeuten, dass Tiere beigefangen wurden.

In der Fischereiindustrie ist von unbeabsichtigtem Fang die Rede, wenn den Fischern etwas ins Netz geht, das nicht dort vorgesehen ist. Aus Angst vor Stigmatisierung, aber auch aus Existenzängsten, die Berufsfischer umtreibt, wird Beifang nicht immer gemeldet. Stattdessen wird er wieder zurück ins Meer geworfen. „Wie in jedem anderen Berufsstand gibt es auch bei uns schwarze Schafe. Jeder weiß, dass Beifang gesetzlich gemeldet werden muss. Dennoch, es ist ein fortlaufender Prozess, um ehrlich zu sein“, räumt Benjamin Schmöde, stellvertretender Vorsitzender des Landesfischereiverbands Schleswig-Holstein, ein.

„Radikale“ Walschützer in der Ostsee

Ein See in Niedersachsen. An einem Ort, der aus Sicherheitsgründen geheim bleiben soll, liegt die „MV Emanuel Bronner“ in einem abgesperrten Bereich. Frisch gestrichen, grau wie ihre Schützlinge, 3,60 Meter breit und 12 Meter lang präsentiert sie sich einsatz- und kampfbereit: mit der Fluke am Mast und der Sea-Shepherd-Flagge, die wie eine Piratenflagge aussieht. Nach mehrwöchigen Vorbereitungen sind die Aktivisten startklar und voller Enthusiasmus für ihre „Baltic Sea Campaign“ zum Schutz der Ostseeschweinswale.

„Wir sind dabei, sehenden Auges eine Spezies auszurotten. Es ist an der Zeit, aktiv zu werden und mehr zu tun als Schilder hochzuhalten.“


Manuel Abraas, CEO von Sea Shepherd Deutschland e.V.

Im vergangenen Jahr mussten sie ihre Kampagne wegen Corona absagen. Dafür wollen sie jetzt „alles geben“. Es gehe in erster Linie darum, Aufklärungsarbeit zu leisten, zu beobachten, zu dokumentieren, Verstöße zur Anzeige zu bringen und Geisternetze zu bergen, in denen sich Vögel und Meeressäuger verheddern und ertrinken können. Sie richten ihr Augenmerk nicht nur auf die Berufsfischer, sondern im Besonderen auf die Nebenerwerbsfischer. „Die haben keinerlei Unrechtsbewusstsein und betreiben rücksichtslosen Raubbau an der Natur“, sagt Robert H., Kapitän bei Sea Shepherd Deutschland.

Dank großzügiger Spenden konnte die „Bronner“ mit hochmoderner Navigationstechnik ausgestattet werden. Dazu gehören Nachtsichtgeräte, Kamera und eine digitale Seekarte, die auf den Meter genau orten kann. Für ihre Mission zum Schutz der Ostseeschweinswale haben die Aktivisten Drohnen sowie ein ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug (ROV) im Einsatz. Damit können sie die Stellnetze abfahren und genau sehen, wer und was sich im Stellnetz verfangen hat. Und zur Not eingreifen:

„Wir halten uns stets an die Gesetze. Wenn ich aber ein illegales Stellnetz finden würde, in dem ein Schweinswal, eine Robbe oder ein Vogel ums Überleben kämpft, würde ich auf jeden Fall einschreiten, um das Tier zu befreien und damit dann den Tatbestand Sachbeschädigung in Kauf nehmen.“

Robert H., Kapitän bei Sea Shepherd Deutschland

Alles nur dramatisiert?

Zurück auf Fehmarn. Hier macht Berufsfischer Frederik Otten, 28, seinen roten „Tümmler“ mit frischer Farbe schick für die Sommersaison. Im Winter ist sein „Tümmler“ Schleppnetzkutter und im Sommer Ausflugsboot für Touristen. Otten hat wenig Verständnis für die Dramaturgie rund um die Schweinswalthematik:

„So schlecht kann es den Schweinswalen nicht gehen. Wenn ich rausfahre, treffe ich manchmal auf ganze Schulen mit bis zu 15 Tieren.“

Frederik Otten, Berufsfischer

Otten gehört zu den Berufsfischern, die die freiwillige Vereinbarung zum Schutz der Schweinswale und der tauchenden Meeresenten unterzeichnet haben. Entstanden ist diese Vereinbarung 2013 bei Gesprächen zwischen dem Landesfischereiverband Schleswig-Holstein, dem Ostsee Info-Center und dem Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt. In §2 der freiwilligen Vereinbarung heißt es, dass zum Schutz von Schweinswalen die Stellnetzfischerei von Juli bis August die Stellnetzflächen auf ein Minimum reduziert. Darüber hinaus wurde ein anonymes Beifang-Meldesystem eingerichtet. Außerdem kommen in Kooperation mit dem Thünen-Institut sogenannte PAL-(Porpoise Alert-) Warngeräte in den Netzen zum Einsatz, die die Wale fernhalten sollen. Laut Angaben des Thünen-Instituts für Ostseefischerei hat das Forschungsprojekt mit Feldversuchen ergeben, dass der Beifang so um 70 Prozent minimiert wird.

Schutzgebiete: Fischen erlaubt – Paddeln verboten

Meeresschützer und BfN stimmen überein, dass es weiterer Maßnahmen, besonders in den Schutzgebieten, bedarf. „Wir fordern, dass Schutzgebiete auch wirklich geschützt werden. Solange der kommerzielle Fischfang hier noch erlaubt ist, kann von Schutzgebiet keine Rede sein“, sagt Abraas von Sea Shepherd Deutschland. Aktuell ist es Berufsfischern nach wie vor gestattet, in Meeresschutzgebieten auf Fang zu gehen. Sea-Shepherd-Kapitän Robert H. macht das wütend:

„Was für ein Irrsinn. Was ist das für ein Schutzgebiet, in dem gefischt werden darf, aber ein Paddelboot strengstens untersagt ist?“

Laut einer Studie des Geomar Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel werde „in Schutzgebieten sogar intensiver gefischt als außerhalb“. Die Kieler Experten gehen von einer um 40 Prozent stärkeren Fischereiintensität in Meeresschutzgebieten aus.

Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hält nach eigenen Angaben fischereifreie Zonen beziehungsweise Zonen, in denen Fischereimethoden mit einem hohen Beifangrisiko ausgeschlossen werden, in den ausgewiesenen Schutzgebieten für notwendig. Derzeit prüfe die EU-Kommission den ganzjährigen beziehungsweise saisonalen Ausschluss der Stellnetzfischerei in schwedischen, deutschen und polnischen Schutzgebieten.

Von den Forderungen der Meeresschützer und der Umweltpolitik, die Stellnetzfischerei in Schutzgebieten auszuschließen, hält Benjamin Schmöde vom Landesfischereiverband Schleswig-Holstein „absolut rein gar nichts. Da werden noch Konflikte auf uns zukommen. Wir kämpfen für die freie Fischerei. Und mit der freiwilligen Vereinbarung tun wir weit mehr als die EU vorschreibt.“

„Die Ostsee hat keine Zeit mehr“

Von Organisationen wie Sea Shepherd scheinen die Fischereiverbände grundsätzlich nicht allzu begeistert. „Da wird meiner Meinung nach Schauspiel betrieben. Das sind freiwillige Aktivisten, die keine Ahnung haben. Die haben weder die fachliche noch die rechtliche Eignung“, so Schmöde.

Die Fronten zwischen Fischereiindustrie, Politik und Meeresschutzorganisationen sind verhärtet, doch alle sind sich einig, dass die heimischen Schweinswale geschützt werden müssen. Sea-Shepherd-CEO Abraas zufolge seien ohnehin nicht nur die Fischer schuld:

„Alle stehen in der Verantwortung und können etwas zum Schutz der Schweinswale beitragen: die Bundesregierung, die EU-Kommission, die Fischer und die Konsumenten. Mit unserer Aufklärungsarbeit möchten wir den Konsumenten ihre Macht bewusst machen. Die Ostsee hat keine Zeit mehr.“

Fehmarn. Der „Tümmler“ erstrahlt in neuem Glanz und ist bereit für die Sommersaison, die im Juni begonnen hat. Bereit für die Urlauber. Bereit für die Ausflüge auf der Ostsee. Bereit für die Ausrufe der begeisterten Touristen, wenn sie Schweinswale sichten.

Dieses Glücksgefühl, so ist zu befürchten, dürfte sich in Zukunft noch seltener einstellen als bisher.

Background Info

Bei diesem Artikel handelt es sich um ein journalistisches Feature. Dieses habe ich als Examensarbeit im Rahmen meiner journalistischen Ausbildung eingereicht (Bewertung 1,0).

Wenn du mehr über die Ostsee-Kampagne von Sea Shepherd Deutschland erfahren möchtest, dann folge ihnen doch auf den sozialen Netzwerken. Hier posten sie immer wieder von ihrem Einsatz. Alles über Schweinswale findest du auf der Website von der Stiftung Deutsches Meeresmuseum zum Beispiel.

Erzähl mir gern, was das Geschriebene in dir auslöst und welche Konsequenzen du vielleicht sogar für dich daraus ziehst? Ein weiterer Tipp an dieser Stelle: Watch Seaspiracy auf Netflix!

Ich freue mich auf deine Nachricht. Deine Gitaliana Michela