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Birden statt Bingen: Runter vom Sofa, raus in die Natur

Taimyr-Halbinsel / Sibirien.

„Meine Damen und Herren Schnepfen, herzlich willkommen zu Ihrem Flug PS030 nach Spiekeroog. Die Entfernung zu unserem Ziel beträgt 5.000 Kilometer, die wir Non-Stop bewältigen werden. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 65 Stundenkilometer. Die Wetteraussichten sind gut, wir starten mit ordentlich Rückenwind und können unser Ziel am Wattenmeer so in drei bis vier Tagen erreichen. Bitte beachten Sie, dass es auf diesem Flug keinen Service und somit keine Verpflegung geben wird. Am Ziel erwartet uns jedoch ein üppiges und proteinreiches „All you can eat“-Buffet. Abflug in fünf Minuten.“

So in etwa stelle ich mir die Ansage der leitenden Pfuhlschnepfe vor, wenn sie den Trupp auf die bevorstehende mühsame Reise einstimmt. Die oben genannten Zahlen sind nicht erfunden. Die Pfuhlschnepfen fliegen tatsächlich ohne Pause von der sibirischen Arktis ans Wattenmeer. Ohne Schlaf. Ohne Essen. Dabei brauchen sie alle Energiereserven auf und „verbrennen“ sogar Teile ihres Brust- und Herzmuskels. Ihre Final Destination ist jedoch nicht die Nordseeküste, sondern ein warmes Winterquartier in Guinea-Bissau in Afrika.

Pfuhlschnepfen ©Stefan Pfützke

Bei uns an der Küste legen Sie eine ausgedehnte Pause ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Das Wattenmeer ist die größte zusammenhängende Wattlandschaft der Welt und bietet mit ihrem natürlichen Nahrungsreichtum beste Voraussetzungen dafür. Hier kann das große Fressen beginnen. Schließlich ist ihr Fett auch ihr „Treibstoff“ und das muss wieder „aufgetankt“ werden. Im Rhythmus von Ebbe und Flut fressen und schlafen sie. Bei Ebbe bedienen sie sich am reichhaltigen Buffet, das sie mit Muscheln, Krabben, Wattwürmern, et cetera versorgt. Bei Hochwasser ruhen sie sich aus und schlafen. Das tun sie so lange bis sie das Doppelte an Körpergewicht zugelegt haben und wieder bei Kräften sind – für die nächsten 4.000 Kilometer nach Afrika.

Im Frühjahr kommen sie dann wieder ans Wattenmeer, bevor es sie zum Brüten zurück in die Arktis verschlägt. Und so wiederholt sich das Ganze Jahr für Jahr.

Vogel ist nicht gleich Vogel

Immer im Frühjahr und im Herbst zieht es Millionen Zugvögel ans Wattenmeer. Insgesamt 222 verschiedene Arten wurden im Rahmen der Aviathlons in den Vorjahren (jedes Jahr) schon gesichtet. Watvögel, Gänse, Enten, Schwalben, Singvögel, Kormorane, Sterntaucher – sie alle sind so unterschiedlich wie einzigartig.

Einige Zugvögel ziehen los, wenn es kalt wird. Andere wiederum folgen einem festen Zugprogramm, das genetisch determiniert ist. Diesem inneren Ruf folgt auch die Pfuhlschnepfe, die Langstreckenzieher ist und zur Ordnung der Watvögel gehört. Ebenso ein Watvogel ist der hübsche Säbelschnäbler. Dieser ist der diesjährige „Titelvogel“ der 12. Zugvogeltage, zu denen der Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer lädt. „Er charakterisiert das Wattenmeer“, schwärmt Peter Südbeck, der Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer. „Vorige Woche wurden 2.000 Säbelschnäbler vor dem Vareler Turm gesichtet. Sie bleiben allerdings nicht bei uns. Bald zieht es sie nach Portugal, wo sie überwintern.“

Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die Nonnengänse, deren abendlicher Einflug in den Dollart oder die Leybucht ein Spektakel für Naturliebhaber ist.

Respekt und Distanz sind überlebenswichtig

„Jede noch so kleine Störung scheucht die Tiere auf und das ist immer gleichbedeutend mit Energieverlust. Energie, die sie brauchen, um ihre Reise zu machen, ihre Junge großzuziehen und um überhaupt zu überleben.“

betont Südbeck

Ohne das geschützte Wattenmeer könnten die Millionen Zugvögel ihrer Bestimmung nicht nachkommen – geschweige denn überleben. Zum Glück steht das Gebiet seit 1986 als Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer unter entsprechendem Schutz. Seit 2009 zählt es außerdem zum UNESCO-Weltnaturerbe, zusammen mit dem niederländischen und dem dänischen Wattenmeer, das damit verbunden ist. Die Zugvögel müssen sich darauf verlassen können, ihre Kraftreserven hier in Ruhe wieder auffüllen zu können. Neben dem allgemeinen Schutzgebiet ist es daher ebenso bedeutend, dass ausgewiesene Ruhezonen von Besuchern beachtet und nicht betreten werden.

Ruhezonen bitte nicht betreten

Darüber hinaus finden die Zugvögel nirgends sonst ein so reichhaltiges Nahrungsangebot. Ein weiterer Grund, warum das Wattenmeer bei ihnen so hoch im Kurs steht. Es ist gut und wichtig, dass das niederländische, deutsche und dänische Wattenmeer geschützt ist. Doch das allein genügt nicht. Zugvögel sind darauf angewiesen an jedem Tag ihres Lebens, an jedem Ort, gute Bedingungen vorzufinden. Dies beinhaltet alle Länder und Küsten dieser Welt, an denen sie eine Pause einlegen auf dem Weg zu ihrem Endziel. „Die globale Intaktheit ist gerade auch für wandernde Arten wie die Zugvögel essentiell. Die ganze Welt ist miteinander vernetzt. Die Zugvögel veranschaulichen das sehr gut“, so Südbeck.

Auf dem ostatlantischen Zugweg rasten sie auf ihrer Reise nach Westafrika neben Deutschland auch in England, den Niederlanden, Frankreich, Portugal und Spanien. Einige Große Brachvögel wurden mit Sendern ausgestattet und so hat nun jeder die Möglichkeit ihnen virtuell zu folgen. Hier kannst du dir in der rechten Leiste einen Brachvogel anhand der Nummerierung aussuchen und schauen, wo er sich aktuell befindet und wo er vorher war.

Wie der Klimawandel die Zugvögel beeinflusst

All den positiven Aspekten, die Naturschutzgebiete wie das Wattenmeer hierzulande und das Tejo-Astuar Gebiet bei Lissabon, für die Zugvögel bereithalten, stehen jedoch auch negative Aspekte gegenüber – wie die Auswirkungen des Klimawandels. Das Nahrungsangebot verändert sich, das Zugverhalten und sogar die Anatomie der Zugvögel selbst. So zeigen neueste Forschungsergebnisse, dass der Knutt, eine amselgroße Watvogelart, inzwischen einen kürzeren Schnabel hat. Mit diesem verkürzten Schnabel kommt er in Afrika nicht mehr an die Nahrung, die er braucht. Die Folgen können fatal sein.

Über den Einfluss des Klimawandels, die globale Relevanz des Vogelzugs, aber auch über die Frage, was einen jungen Mann dazu veranlasst sich hauptberuflich mit Zugvögeln zu beschäftigen, habe ich mit Dr. Rune Michaelis (32) gesprochen. Hör doch mal rein.

Rune_Michaelis_Nationalparkverwaltung

Rune Michaelis hat am Alfred-Wegener-Institut auf Sylt promoviert (Dr. rer. Nat) und ist studierter Geoökologe (M. Sc.).

Heute ist er für die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer tätig.

Telefoninterview mit Dr. Rune Michaelis
Mein „Auslöser“

Wer sich fragt, was mein Interesse an Zugvögeln geweckt hat… siehe folgendes Video. Hier bereitet ein Schwarm Singvögel sich auf die Reise gen Süden vor – in Lageland vor Groningen in den Niederlanden. Schlaftrunken tappte ich in aller Herrgottsfrühe aus dem Planwagen. Das laute „Geschnatter“ der Vögel hat mich magisch angezogen. Dieses perfekt inszenierte Ballett und dieser ganz besondere Klang der Flügel, wenn sie sich alle gleichzeitig vom Boden in den Himmel heraufschwingen – einfach atemberaubend. Eine Stunde lang konnte ich meinen Blick nicht mehr abwenden. Sieh selbst.

Ein Schwarm Singvögel führt ein wunderschönes Ballettstück auf

Die Geschichte der Zugvögel verdeutlicht wie sehr die ganze Welt miteinander vernetzt ist, wie wir alle aufeinander angewiesen sind und wie genial die Natur doch ist. Das ist definitiv etwas für deine Bucket List.

Also, runter vom Sofa und raus in die Natur 🙂

Good to know

Wenn dich das Fieber jetzt auch gepackt hat oder zumindest ein gewisses Interesse, dann mach deinen nächsten Kurztrip doch ans Niedersächsische Wattenmeer und lass dich von den Zugvögeln begeistern. Mit fachkundiger Begleitung oder individuell. Jetzt im Herbst ist genau die richtige Zeit.

Die 12. Zugvogeltage stehen kurz bevor und bieten ein vielfältiges Programm für Laien, Vogelkundler, Erwachsene, Kinder und Familien. Du hast die Wahl zwischen Exkursionen (Wattwanderungen, Schiffstörns, Vogelkunstsafaris für Kinder, usw.), Vorträgen, Ausstellungen und vielem mehr. Zum Programm der 12. Zugvogeltage, die vom 10. bis 18. Oktober 2020 stattfinden, geht es über diesen Link. Die Angebote sind teilweise kostenfrei. So kannst du zum Beispiel an jedem Veranstaltungstag zwischen 10 und 18 Uhr zum Vogelturm am Vareler Watt kommen, um Vögel zu beobachten. Vogelkundler sind dann vor Ort und geben auf Wunsch Auskünfte.

Wer dieses Naturschauspiel, das die Zugvögel für uns aufführen, lieber eigenständig erleben möchte, der hat an besonders exponierten Punkten die besten Chancen: auf den ostfriesischen Inseln, an der Kugelbake in Cuxhaven, an der Wurster Nordseeküste, am Jadebusen, an der Leybucht und am Dollart.

Die beste Zeit, um ziehende Vögel zu sehen ist am frühen Morgen bei Tagesanbruch. Rastende Vögel, die futtern und schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, beobachtet man am besten zwei Stunden vor der Flut an den Küstengebieten. Da kommen sie langsam immer näher ans Ufer heran. In der Abenddämmerung auf dem Festland kann man gut Gänse beobachten, die zu ihren Schlafplätzen fliegen.