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Der Hundertjährige, der jeglichen Anstand aus dem Fenster warf

Zypern 2006 im 5*Sterne Luxushotel am Strand

Er steht auf, geht zum Sofa rüber, setzt sich und klopft auf den Platz neben sich: „Komm setz dich zu mir. Willst du mir nicht deine Dankbarkeit zeigen?“ Ich blicke auf die faltige Hand, die auf das Polster pocht, sehe die dicken Adern darauf und weiß nicht was ich tun soll. Ich habe ein mulmiges Gefühl. Wie angewurzelt stehe ich noch da und zögere. Es sind nur einige Sekunden. Sie fühlen sich wie eine Ewigkeit an. Natürlich bin ich ihm dankbar, das habe ich ihm ja auch schon gesagt. Wäre es respektlos der Aufforderung eines netten älteren Herrn, dem mehrere Luxushotels gehören, nicht zu folgen? Ich bin mir nicht sicher. Ach, das ist doch lächerlich denke ich mir, warum sollte er etwas Unangebrachtes im Schilde führen? Ich gehe zu ihm und setze mich -wie gefordert- neben ihn.

Er sagt irgendwas, aber ich höre es nicht. Ich sehe nur, wie seine Hand sich zu meinem Bein bewegt und er seinen Kopf zu mir neigt als wolle er mich küssen. Da bin ich schneller auf den Beinen als er A sagen kann. Mit einer ruckartigen Bewegung stehe ich vor ihm, strecke ihm meine Hand hin, bedanke mich noch einmal, verabschiede mich und gehe zur Tür hinaus.

Ist das gerade wirklich passiert?

Es fühlt sich eklig und schmutzig an. Habe ich unwissentlich Signale ausgesendet? Will er damit andeuten, dass er meinem Wunsch, vom Restaurant an den Empfang zu wechseln, nicht meiner Qualifikation wegen nachkommt, sondern damit ich ihm Dankbarkeit schuldig bin? Lange denke ich darüber nach. Selbstbewusst komme ich jedoch zu dem Schluss, dass ich diese „Beförderung“ verdient habe. Den ursprünglichen Absprachen in Deutschland nach, sollte ich ohnehin gleich am Empfang eingesetzt werden. Als ich dann im mir zugewiesenen 5* Hotel ankam, hieß es plötzlich: „Zuerst muss jeder ins Restaurant und danach sehen wir weiter.“ Meine Begeisterung kann man sich vorstellen.

Nach einigen Wochen schlechter Bezahlung im Restaurant, hatte ich die Schnauze voll. Die Unsitten der Gäste gingen mir auf die Nerven, der verschwenderische Umgang mit dem Essen und einfach alles. Ich stellte den Eigentümer vor ein Ultimatum: „Entweder Sie versetzen mich wie vereinbart an den Empfang oder ich reise wieder ab.“ Nach einigem Hin und Her stimmte er wenige Tage später zu. Mit € 800 mtl. war der Job nicht viel besser bezahlt, aber er bot andere Herausforderungen, mit denen ich besser umgehen konnte.

Nun sollte ich also dankbar sein. Meine Dankbarkeit erwies ich mit meiner Leistung. Nach zwei Wochen kam er an der Rezeption vorbei als ich Dienst hatte und sagte: „Ich bin stolz auf dich. Ich höre nur Gutes über dich. Schön, dass ich meine Entscheidung nicht bereuen musste.“ Im ersten Moment fühlte ich mich beschämenderweise geschmeichelt, aber das hielt nicht lange an. Es ist kein nettes Kompliment, es ist einfach nur anmaßend. Ich brauche seinen Stolz nicht. Ich leistete genau das, worum ich mich beworben hatte und wofür ich eingestellt wurde. ‚Nun gut, lassen wir dem alten Herrn seine gönnerische Art, solange er sie noch ausleben kann‘, dachte ich mir.

„Die beste Art eine Sprache zu lernen, ist sie in sich zu haben.“

Wenige Tage darauf stand er wieder vor mir. Mit einem Buch in der Hand, welches er mir feierlich überreichte. Griechisch in 30 Tagen. „Hier, damit du Griechisch lernst und eine Zukunft bei uns hast.“ Er tätschelte meine Hand und im Weitergehen drehte er sich noch einmal um und sagte: „Die beste Art eine Sprache zu lernen, ist sie in sich zu haben. Du brauchst einen zypriotischen Freund. Stimmt’s Simone*?“ Lachend blickte er zu meiner ausländischen Kollegin, die schon länger da war und mit einem Zyprioten verheiratet war.  Ich hätte mich übergeben können. Das war ja fast noch widerwärtiger als seine Dankbarkeitsnummer. Fremdsprachen sind meine absolute Leidenschaft. Ich kann sie aufsaugen wie sonst nichts. Griechisch gelernt habe ich in meinen 10 Monaten Zypern kaum. Die Lust dazu war mir gehörig vergangen. Schade eigentlich. Vielleicht war es auch meine Antwort darauf, dass ich sicher keine Zukunft hier haben wollte.

*Name geändert

Wie alt mag er sein? 100?

Ich war sicher, dass er 100 gewesen sein muss. Vielleicht auch etwas zwischen 90 und 100. Im Hotel munkelte man viel. Es hieß, dass er regelmäßig für teure Verjüngungskuren und Operationen nach Israel reiste. Niemand kannte sein wahres Alter. Das verheimlichte er sehr gut. Seine Gier nach jungem Fleisch hingegen nicht so gut. In unseren ersten Wochen lud er zwei Kolleginnen und mich zu sich in seine Villa ein. Das sei Brauch, um neue Mitarbeiter(INNEN) willkommen zu heißen. Er begrüßte uns mit dem feinsten Champagner und führte uns durch seine Prunkvilla mit den Marmorböden, die so sauber glänzten, dass man davon hätte essen können – besonders stolz zeigte er uns sein Schlafzimmer mit dem großen Bett und der hochwertigen Bettwäsche – „echte Seide“, sagte er schmierig grinsend, während er mit seiner alten Hand sanft darüber strich. So viel Luxus und Kitsch kannte ich vorher nur aus dem Fernsehen – so ein Verhalten auch nur aus schlechten Filmen. Nach dem Essen sollten wir alle auf dem großen roten Sofa Platz nehmen. Er zwängte sich dazwischen und fing wieder zu grabschen an. Wir alle standen auf und stammelten etwas darüber, dass wir müde seien, zu viel Champagner bla bla und müssten jetzt dringend schlafen gehen.

€ 2.000 monatlich im Tausch für deine Würde

Einige Tage später erfuhren wir von anderen Kolleginnen, dass er an diesen Abenden für gewöhnlich immer auch ein konkretes Angebot machte, mit dem man sich das mickrige Gehalt aufbessern konnte. Eine junge Dame nahm es an. € 2.000 im Monat für 2-3 Mal in der Woche Besuche in der Villa für sexuelle Gefälligkeiten. Das erste was einem da in den Kopf kommt ist erschreckenderweise „Iiiihhh wie kann SIE nur?!“

Die richtige Frage sollte aber vielmehr lauten „Wie kann ER nur?! Schamlos die Not eines Menschen nutzen, der sich davon ein besseres Leben erhofft, der die Familie daheim unterstützen will?“ Leider blickt man jedoch immer verachtend auf SIE. Das ging nicht nur mir so. Die Reaktion der anderen unterschied sich nicht von meiner. Ob da Konditionierung hinter steckt? Ob man SIE als die Schuldige sieht, weil sie doch (so meint man) eine Wahl hat? Er ist nur der arme alte Mann, der sich etwas Vergnügen wünscht und dafür ein großzügiges Angebot macht. Und überhaupt, was kann denn der 100-jährige noch ausrichten? € 2.000 für etwas Tätscheln, sich erniedrigen und sich von seiner Würde verabschieden – geht doch. Andere müssen für weniger Geld mehr über sich ergehen lassen. Falls nicht erkennbar: Das war Sarkasmus.

Ich bin in Bezug auf sexistische Sprüche immer schon recht unempfindlich gewesen. Solange es nicht mehr als dummes Gelaber war, das ich weglächeln konnte, machten sie mir meistens nichts aus. Sie waren so normal, so alltäglich, dass sie mir als solche oft nicht einmal auffielen. Irgendwie erschreckend.

Geht es dir ähnlich? Welche Frage sollten wir uns deiner Meinung nach, stellen?

a) Was sagt das über mich aus?

oder

b) Was sagt das über unsere „Stell dich nicht so an“-Gesellschaft aus?

Meine abschließenden Fragen stelle ich euch allen – egal ob Mann oder Frau. Denn Sexismus und Belästigung im (Arbeits-) Alltag geht nicht nur von Männern aus. Das gibt es umgekehrt genauso.

So, let’s talk about it. Ich freue mich auf deine Nachricht.